
Wenn die Eltern zum Pflegefall werden
Meist beginnt es schleichend, wie bei meinem Vater. Eines Tages fragte er mich, wo ich denn eigentlich wohne. Dann vergaß er meinen Geburtstag, was in 29 Jahren nicht ein einziges Mal vorgekommen war. Als ich schwanger war, meinte er zu mir, wir müssten nun auf meine Schwester achtgeben, wo sie ja jetzt das Baby erwartet. In seinem Arbeitszimmer türmten sich die Papierstapel, er war nicht mehr in der Lage, sie zu sortieren.
Erst waren wir ärgerlich: wie konnte er nur alles durcheinanderbringen? Dann waren wir schließlich soweit uns einzugestehen, dass er an Demenz litt, so wie bereits seine Mutter. Dennoch reiste er noch durch die Welt, nahm am Leben teil. Dann kam der Einbruch: er stürzte, brach sich den Oberschenkelhals und musste zweimal operiert werden. Nach der Narkose war er verändert, nicht mehr allein lebensfähig. Wir waren völlig überrumpelt, zumal alles sehr schnell gehen musste. Es stand außer Frage, dass er ins Pflegeheim musste. Er wohnte allein, wir Kinder lebten in anderen Städten und waren mit dem eigenen Leben ausgelastet.
Wir hatten Glück, weil wir uns an die richtigen Stellen wandten und informierten. Wie durch ein Wunder bekamen wir für ihn einen Platz in einer sehr guten, schönen Seniorenresidenz. Das kostete zwar trotz Pflegestufe viel Geld, hat sich aber gelohnt. Er blühte dort förmlich auf, lernte noch einmal das Gehen. Über sechs Jahre war das sein neues Zuhause, bis zum letzten Moment.
Doch ich weiß auch, dass es nicht immer so glimpflich abläuft wie in unserem Fall. Wenn die eigenen Eltern hilflos werden und Unterstützung brauchen, reagieren wir erstmal abwehrend. Denn es bedeutet einen ersten Abschied von der geliebten Person, wie wir sie einmal kannten. Ein Schritt in die Richtung der letzten Station. Es benötigt Zeit, dass alle Beteiligten die neue Situation annehmen können. Auch die hilfsbedürftige Person möchte die Veränderungen nicht hinnehmen, sträubt sich dagegen, Unabhängigkeit abzugeben.
Dennoch kommen wir nicht drum herum, uns damit auseinanderzusetzen: was möchte meine Mutter oder mein Vater? Erwartet er oder sie vielleicht sogar, dass ich sie selbst pflege, bei ihnen einziehe oder sie bei mir aufnehme? So wurde es in den letzten 70 Jahren meist gehandhabt. In der Regel blieb es an den Töchtern oder Schwiegertöchtern hängen, da sie „sowieso daheim waren“. Aber, und das wollen viele nicht wahrhaben, die Zeiten haben sich geändert. In gewissem Umfang ist eine Unterstützung zwar noch möglich, mal einkaufen oder kochen kommen. Wenn es jedoch um richtige Pflege geht, mit 24 Stunden-Betreuung, kann dies nicht mehr in den Familien geleistet werden. Es gibt (zum Glück) kaum noch die Hausfrau, die daheim zur Verfügung steht. Alle arbeiten oder haben anderweitige Verpflichtungen. Dann muss sorgfältig abgewogen und gemeinsam überlegt werden, wie mit der veränderten Situation umgegangen werden kann. Dabei gilt: je früher desto besser, auch wenn es bedeutet, den geliebten Menschen mit seiner Lage konfrontieren zu müssen und sich unangenehmen Auseinandersetzungen zu stellen.
In jedem Fall macht es Sinn, sich professionelle Unterstützung zu holen. Dafür gibt es in den meisten Orten sogenannte „Pflegestützpunkte“. Diese versorgen Angehörige mit Informationen und Hilfsangeboten. Sie können Tipps dazu geben, wie man eine Pflegestufe bekommt, welche Pflegeformen in Frage kommen, und welche örtlichen Träger dies leisten.
Die Ermittlung einer Pflegestufe ist enorm wichtig. Denn der Grad der Pflegebedürftigkeit entscheidet, wie viel Geld dem Pflegebedürftigen für die Organisation der eigenen Pflege zur Verfügung gestellt wird.
Viele ältere Menschen haben Angst davor, „ins Heim abgeschoben“ zu werden. Verständlicherweise, denn die Qualität von Pflegeheimen ist oft nicht zufriedenstellend. Und gute Pflege kostet Geld. Deshalb sollte man Folgendes bedenken:
Jeder sollte sich frühzeitig und bei guter Gesundheit Gedanken darüber machen, wie mit einer eventuellen Pflegebedürftigkeit umgegangen werden sollte. Wenn das finanziell möglich ist, macht der Abschluss einer privaten Pflegeversicherung Sinn. Denn die gesetzliche Pflegeversicherung deckt kaum den Grundbedarf. Es gilt, Vermögen zurückzulegen, sonst werden im schlimmsten Fall die Kinder zur Kasse gebeten.
Kommt es dann zum Fall der Fälle, können Familienmitglieder überlegen, ob sie einige Wochen Pflegezeit bzw. Pflegeurlaub nehmen und sich von ihrem Job freistellen lassen. Doch das muss nicht sein. Die Pflegelandschaft bietet eine Vielzahl an Möglichkeiten, in denen ältere Menschen viel Autonomie bewahren können. Es gibt die Tagespflege, bei der sie daheim abgeholt werden und in netter Umgebung für einige Stunden am Tag betreut werden. Ambulante Pflegedienste kommen je nach Bedarf regelmäßig im Haushalt vorbei und stellen auch medizinische Versorgung bereit. Im betreuten Wohnen, können Personen im eigenen Appartement relativ autonom, aber in einer bedarfsgerechten Umgebung leben und gegebenenfalls sofort Hilfe erhalten.
Ist der Gesundheitszustand sehr schlecht, evtl. verbunden mit Bettlägerigkeit, reicht das jedoch nicht aus. Pflegende Familienangehörige sollten sich die Frage stellen, ob sie die mentale und fachliche Stärke mitbringen, um selbst eine Rundumpflege zu übernehmen. Hier sollte man ehrlich zu sich sein und sich nicht vom schlechten Gewissen leiten lassen. Wer es sich finanziell leisten kann, kann sich eine private Pflegekraft ins Haus holen, die dort auch wohnt und gegebenenfalls eine ganztägige Betreuung leisten kann. Oft bleibt jedoch nur der Umzug in ein Pflegeheim. Leider sind diese häufig von schlechter Qualität und /oder überfüllt, so dass es Sinn macht, rechtzeitig eine gute Einrichtung zu suchen, abzuwägen, was man sich finanziell leisten kann und sich auf die Warteliste setzen zu lassen. Dann kann man auch im Pflegeheim noch ein paar lebenswerte Jahre verbringen. So wie im Fall meines Vaters.